Die Eröffnungsfeier
"Wer
jetzt nicht siegt, wird ewig warten", ruft ein eigens für den Mühle-Abend
im Seniorenzentrum St. Nimmerlein eingeflogener Ex-Sportkommentator in sein
Mikrofon und klopft sich innerlich für seinen schwarzen Humor auf die Schulter.
Sofort verbreitet sich unter den anwesenden Greisen eine angespannte
Alles-oder-nichts-Stimmung, die von einer hektischen Sinfonie aus klappernden
Gebissen, knarzenden Gelenken und übersteuerten Hörgeräten untermalt wird.
Parallel zu den eröffnenden Worten wuselt das Kompetenzteam "Pflegestufe
2" durch den Turnierraum und verrichtet die letzten Aufbauarbeiten. Der
Anforderungskatalog der Heimleitung (keine Stehplätze, Entfernung sämtlicher Zimmerpflanzen etc.)
hat die fleißigen Helfer sichtlich an ihre Grenzen getrieben. Offiziellen
Schätzungen der St. Nimmerleins-Stiftung zufolge ist es im Rahmen der
Turniervorbereitung zu acht bedauerlichen Fällen von "kollateralem
Ableben" gekommen, was jedoch angesichts der immensen Bedeutung des
Großereignisses für das ganze Seniorenzentrum guten Gewissens vernachlässigt
werden kann und muss. Kaum sind die letzten RIP-Logen fertiggestellt, beginnt
auch schon die offizielle Eröffnungszeremonie:
Der
entzückende Chor des angrenzenden katholischen Kindergartens, dem man den
Zwangscharakter seines Auftritts kaum ansieht, singt die offizielle
Turnierhymne „Grau und weiß“. Dieses lustige Stelldichein aus singenden Kindern
und schunkelnden Senioren muss als Hommage an den "Kreislauf des
Lebens" verstanden werden, der sich als Turnier-Motto gegen den Vorschlag
"Die Welt zu Gast bei (alten) Freunden" durchgesetzt hat.
Unterdessen
„pushen“ (frei übersetzt: wecken) die dienst-habenden Pfleger ihre Schützlinge
mit motivierenden Ohrfeigen und der Dorfpfarrer bietet vorsorglich eine
kostengünstige Seelsorge für die Verlierer des Abends an. Um es auf den Punkt
zu bringen: Es ist angerichtet.
Die
Vorrunde
Schon in den
ersten Vorrundenbegegnungen scheinen die Nerven bei einigen Teilnehmern blank
zu liegen. Ein besonders eifriger Teilnehmer in biblischem Alter kramt seine
Trashtalk-Skills vergangener Bolzplatztage hervor und provoziert seinen
Kontrahenten mit mehrdeutigen Anspielungen, die auch heute nichts von ihrer
entmutigenden Wirkung eingebüßt zu haben scheinen. In wenigen Zügen lockt er
sein peinlich berührtes Gegenüber in eine Zwickmühle, um ihm anschließend
Spielstein für Spielstein mit einem angedeuteten Spuckgeräusch in die
Schnabeltasse zu pfeffern. Siegestrunken verlässt er schließlich den
schützenden Hafen seines Rollators und rutscht auf Knien vor den Groupie-Tisch,
an dem sich die vor dem 1. Weltkrieg geborenen Damen niedergelassen haben, um
dem heroischen Treiben bei Kaffee und Kuchen beizuwohnen.
An einem
anderen Tisch macht ein wild gestikulierender Veteran aus dem
deutsch-französischen Krieg auf tiefe Bisswunden in seiner Schulter
aufmerksam, die ihm sein Gegenspieler mutwillig zugefügt haben soll. Der
Beschuldigte rechtfertigt sich mit einer abgelaufenen Haftcreme, durch die sich
sein Gebiss im Wortgefecht selbstständig gemacht habe. Nach einer kurzen
Verhandlungspause verdonnert die Heimleitung den Beißer zu einer willkürlich
ausgewürfelten Sperre von neun Tagen.
Das
Finale
Um die
gesteigerte Aufmerksamkeit der Zuschauer vor dem großen Turnierfinale maximal
auszunutzen, hat es sich der Hauptsponsor der Veranstaltung, ein hiesiger
Bestattungsunternehmer, nicht nehmen lassen, die Gestaltung des Vorprogramms zu
übernehmen. Hinter mehrfach abgeschlossenen Türen werden die durch leichte
Beruhigungsmittel (mit Cola-Geschmack) präparierten Zuschauer in die besonders
luxuriösen Modelle des Sponsors eingeladen. Große Männer betreten den
Raum und bitten ihre Kunden mit sanftem Druck, den Kaufvertrag für ihr
zukünftiges Zuhause zu unterzeichnen.
Nach dem
Vorprogramm hat sich im Turnierraum ein angespanntes Schlummern ausgebreitet.
Beide Finalisten, die sich im bisherigen Turnierverlauf durch eine
beeindruckende Geschlossenheit der Harnröhre ausgezeichnet haben, rutschen auf
ihren Stühlen nervös hin und her. Der
Schiedsrichter, ein seit 23 Jahren an Grauem Star leidender „Freund der
Turnierleitung“ eröffnet das Spektakel. In einer ersten Abtastphase werden die
Spielsteine bedächtig hin und her geschoben. Sofort wird dem kundigen
Beobachter gewahr, dass es sich hier nicht nur um ein Prestigeduell zwischen
Mühle-Veteranen, sondern auch um das Aufeinanderprallen zweier
Pfleger-Philosophien handelt. In der einen Ecke der von einem aufstrebenden
Zivildienstleistenden betreute Bismarck Schimmelpfennig, der seine Steine bereits
nach wenigen abwartenden Spielstunden in einem irrwitzigen Tempo verschiebt. In
der anderen Ecke der seelenruhige „Flak-Heinrich“, der sich mit jeder noch
funktionierenden Faser seines Körpers auf den ausgewieften Matchplan eines
erfahrenen Krankenpflegers konzentriert, nach dem es unter anderem vorgesehen
ist, die stärksten Spielsteine von außen in die Mitte zu ziehen.
Inglourious
Basterds
Endlich ist
es so weit. Die Entscheidung steht unmittelbar bevor und die Spannung ist mit
Händen zu greifen. Plötzlich bricht ein heilloses Chaos aus. Wie aus dem Nichts
tauchen dutzende als Windmühlen verkleidete Männer auf, wirbeln mit kreisenden
Armen durch den Turnierraum und verwüsten alles, was sie in die Finger
bekommen. Tische, Stühle, Gehhilfen und Luxussärge schwirren durch die Luft,
Kaffeetassen zerbersten, tattrige Senioren düsen auf wildgewordenen Rollatoren
ziellos durch den Raum und geben Schreie von sich, die gleichzeitig ängstlich
und erleichtert klingen. Der Leiter des Seniorenzentrums, ein hochseriöser
Geschäftsmann aus der Schweiz, gerät bei dem Versuch, sich durch die Hintertür
zu entfernen, in die kreisenden Fänge einer wutschnaubenden Mühle und wird quer
durch den Raum geschleudert. Eine besonders furchteinflößende Mühle baut sich
vor dem kriechenden Heimleiter auf, packt ihn am Schopf und sagt: „Du hast von
uns gehört? Dann weißt du, dass wir nicht im Gefangen-Nehmen-Geschäft sind. Wir
sind im Korrupte-Funktionäre-Töten-Geschäft. Und, mein Freund, das Geschäft
boomt.“
Kommentare
Kommentar veröffentlichen