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Schachmatt


Angetrieben von hochehrwürdigen Idealen, beseelt von euphorischer Erwartungsfreude und getragen von universitärem Fachwissen mache ich mich auf den Weg in die Klasse 5b des Ritalin-Gymnasiums in Engelskirchen.          
„Guten Morgen liebe Klasse 5b.“ begrüße ich die Schüler.
„Guten Morgen Herr Nunn, Sie Schwein“, antwortet die Klasse.
Jetzt heißt es cool bleiben. Innerlich lasse ich sämtliche Pädagogik-Seminare meiner 12 Lehramtssemester Revue passieren und sage laut und deutlich:
„In die Ecke! Alle! Sofort!“ 
Die Schüler stehen auf und begeben sich mit hängenden Köpfen in die hintere Ecke des Raums. Stolz begutachte ich meine erste pädagogische Maßnahme, bis ein dicker Junge fragt:
„Und jetzt?“
„Ja“, denke ich, „diese Frage hatte sich förmlich aufgedrängt."
„Jetzt schämt ihr euch erst mal“, sage ich, um Zeit zu gewinnen. Doch der Junge hakt nach:
„Wofür sollen wir uns schämen?“
„Ihr habt mich im Chor als Schwein bezeichnet“, empöre ich mich.
„Stimmt doch!“, gibt die Klasse im Chor zurück.
„Ich glaub es hackt!“, schreie ich, denn das tun alle Lehrer, wenn sie sauer sind und füge selbstsicher hinzu:
„In die andere Ecke!“
Brav schlürfen die Schüler in die andere Ecke und schauen mich erwartungsvoll an. Wieder konfrontieren sie mich mit der unvermeidlichen Sinn-Frage und entschlossen wiederhole ich die Maßnahme zwei weitere Male.  
„Schachmatt!“, bemerkt ein Schüler,
„Syntax error“ ein zweiter und
„Format C“ ein dritter.
In der ersten Reihe wird ein Lied angestimmt:
„Die Klasse hat vier Ecken, / zum Glück ist sie nicht rund.“
Ich setze mich an den Pult und weine. Ein Mädchen, das nun ihren Schmähgesang eingestellt hat, nimmt sich einen Stuhl und kommt nach vorne. Sie setzt sich mir gegenüber an den Pult, schlägt die Beine übereinander, nimmt bedächtig ihre Brille ab und fragt:
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“
„Schlecht“, schluchze ich, „ich hatte mir eigentlich vorgenommen, euch zu beweisen, dass Geschichte Spaß machen und das man aus ihr lernen kann, dass eines Tages alles gut wird und der Weltfrieden nah ist.“
„Das war dumm“, bemerkt die Schülerin.
Der dicke Junge meldet sich. Sie nimmt ihn dran:
„Hitler, Facebook und Wulf sind böse, Jesus und Dirk Nowitzki gut“, fasst er die Weltgeschichte zusammen.
„Scheiße“, denke ich, „diese Einteilung beraubt mich meiner Existenzberechtigung“. 
Erneut breche ich in Tränen aus. Die Nachwuchspsychologin legt mir tröstend eine Hand auf den Unterarm und macht einen Vorschlag:
„Was halten Sie davon, wenn wir einfach noch einmal von vorne beginnen?“
Ich halte das für eine tolle Idee, verlasse die Klasse, halte einen Augenblick inne, klopfe mit neuer Fassung gewappnet an die Tür, stelle mich selbstbewusst vor die Tafel und rufe:
 „Guten Morgen liebe Klasse 5b.“
„Guten Morgen Herr Nunn…Sie Schwein“.
„Damit hätten er rechnen können“, murmelt ein Schüler in der ersten Reihe.
„Sollen wir jetzt wieder in die Ecke?“, fragt ein anderer,
„Sie haben ja wieder vier zur Auswahl!“, prustet die Psychologin.       
Bevor ich antworten kann, klopft es an der Tür. Es ist ein riesiges Huhn. Das Huhn möchte Johannisbeersaft verkaufen. Die Schüler kramen in ihren Geldbörsen, einige möchten wissen, ob das Huhn auch PayPal akzeptiert und andere erkundigen sich nach seiner Bereitschaft, spontan einige Eier zu legen. Aus meiner Verzweiflung wird Wut. Ich packe das Huhn an seinen  Federn, fixiere es an der mittleren Tafel und verprügele es mit den Tafelflügeln. Dann halte ich es an den Füßen aus dem Fenster und schreie:
„Seht her! Das passiert mit Hühnern, die in meinem Unterricht Johannisbeersaft verkaufen!“
Dann lasse ich es in den Schulteich plumpsen.
Die Klasse ist jetzt sehr nett. Niemand muss mehr in die Ecke geschickt werden und alle finden preußische Geschichte unheimlich spannend.
Nach dem Klingeln treffe ich auf dem Gang einen Kollegen.
„Morgen Herr Nunn, Sie Schwein“, begrüßt er mich freundlich. 
Als ich ihn an den Haaren in die Klasse ziehe, um dem Huhn einen Planschkameraden zu spendieren, bemerkt er das Missverständnis:
„Herr Kube, wissen Sie denn nichts von unserer SMS- Woche?“
„Schnell mal sparen?“, frage ich.
„Im Gegenteil“, sagt er, „Solidarität mit dem Schlachtvieh. Jeder Lehrer schlüpft für eine Woche in die Rolle eines von der Schlachterei betroffenen Tieres und Sie sind das Schwein. Das sollte auch den letzten Schüler zum Vegetarier machen. Ach übrigens: haben Sie Frau Kleine-Wilde gesehen? Die wollte sich als Huhn verkleiden und Johannisbeersaft verkaufen.“
„Nein“, sage ich. Dann nehme ich meine nagelneue Ledertragetasche und verlasse das Schulgelände.


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